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Theorie über die Entwicklung der Marschenlandschaft im Harlingerland

25. Februar 2021

Ein interessanter Aufsatz, den Axel Heinze als Festschrift anlässlich der Verabschiedung von Dr.Bärenfänger (Landschaftsdirektor) verfasste.


Auslöser dieser Überlegungen ist das vielfach geäußerte Interesse von Einwohnern des Harlingerlandes an der Weihnachtsflut von 1717 und den Auswirkungen dieser Sturmflut in diesem Gebiet, denn diese Katastrophe hatte wohl hier ihren Schwerpunkt. Glücklicherweise gibt es zahlreiche Augenzeugenberichte, die auch sehr detaillierte Aussagen über das Ausmaß der Schäden erlauben. Trotz der nahezu völligen Zerstörung vieler Siedlungen in der Marsch wurden sie sehr schnell wiederhergestellt und bewohnt, obwohl sich solche Ereignisse doch jederzeit wiederholen konnten.

Daraus folgt unmittelbar die Frage: Warum haben Menschen diesen lebensgefährlichen Raum überhaupt erschlossen und welche Fehler haben sie vielleicht bei der Erschließung gemacht?

Marsch

Unter „Marsch“ wird hier die fast flache Landschaft an einer Gezeitenküste verstanden, die bei normaler Flut nicht überflutet wird, aber bei Sturmfluten – also windbedingt erhöhten Wasserständen – mehrfach im Laufe eines Winters mehr oder weniger vom Wasser überdeckt wird. Handelt es sich um den Küstenbereich eines Meeres, so wird sie von Salzwasser überflutet (Küstenmarsch). In den Ästuarien wird das Wasser zunehmend brackisch bis schließlich ganz süß (Flussmarsch). Dieser Faktor ist entscheidend für die Pflanzengesellschaften, die sich hier entwickeln. Zudem ist die Sedimentation unterschiedlich, aber die Prozesse sind weitgehend vergleichbar (Zur Entstehung des Naturraumes siehe Behre 2008; 2014).

Ein weiterer notwendiger Faktor ist ein langsames Anwachsen des Meeresspiegels gegenüber der Landeshöhe. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Meeresspiegel wirklich steigt oder der Boden sinkt, die Auswirkung bleibt gleich.

Natürliche Höhenunterschiede ergeben sich zum Beispiel durch Uferwälle an Wasserläufen, wo vor allem oberhalb von Prallhängen relativ grobes Material abgelagert wird. Je nach Größe des Gewässerlaufes können solche Wälle Höhen von mehr als einem Meter erreichen, sind aber in ihrer Längenausdehnung immer beschränkt. Anders ist die Entwicklung parallel zur Küstenlinie. Auch hier wird bei Überflutungen gröberes Material in einigem Abstand von der Küstenlinie weitflächig abgelagert und bildet einen flacheren, aber wesentlich breiteren und oft sehr langen küstenparallelen Wall. Für dieses Phänomen wird in der niederländischen Geologie der Begriff „Kwelderwall“ benutzt, der sich als „Küstenwall“ übersetzen lässt.

Bäume sind in der natürlichen Küstenmarsch kaum zu erwarten, da unsere Baumarten keinen Salzgehalt im
Wasser vertragen. Die dominierende Pflanzenart ist das Schilf (Phragmitis) mit einer recht guten Salzresistenz und einer sehr guten Wasserverträglichkeit. Zudem stellt es keine besonderen Ansprüche an die Bodenart, solange genügend Nährstoffe zur Verfügung stehen. 

Die Bodenarten sind in der Marsch sehr unterschiedlich. An Korngrößen stehen nur Sand, Ablagerung, da Überflutungswasser hier oft lange Zeit steht und so auch Tonmineralien zur Ablagerung kommen, während Sand hier nicht mehr hingelangt und der Schluff-Anteil immer geringer wird.

Schlick entsteht vor allem in der Übergangszone von Salz- und Süßwasser durch Ausfällung und biologische Prozesse, so dass er in der Flussmarsch dominiert und Schluff und Tonmineralien zur Verfügung. Auf den „Wällen“ dominieren Sand und Schluff, eventuell noch begleitet von einzelnen Muschelschalen, da hier die Wasserbewegung für feinere Sedimente zu groß ist. Weiter entfernt von Küste und Wasserläufen gelangt nur Schluff mit unterschiedlich hohen Tonanteilen zur mit zunehmendem Abstand von Fließrinnen fast nur noch als Ton mit einem geringen Schluff-Anteil abgelagert wird. 



Abb. 1: Dendrodaten von Mooreichenstämmen aus der Umgebung von Esens (Grafik bearbeitet nach Leuschner u.a. 1986  Abb. 7

Lebensraum

Dieser Raum ist also eine Landschaft mit nur ganz geringem Relief, durchzogen von einem Gewirr von Wasserläufen, die bedingt durch Ebbe und Flut viermal täglich ihre Fließrichtung ändern. Ihr Salzgehalt ist stark wechselnd. Die Landflächen sind von einem „Schilfsumpf“ bedeckt, nur unmittelbar an der Küstenlinie dominieren salzresistente Gräser. Bei Sturmfluten im Winterhalbjahr wird die gesamte Landschaft von Wasser bedeckt, je nach Höhe der Flut bleiben nur kleine Stellen trocken. Tiere können hier nur leben, wenn sie an diese Bedingungen angepasst sind. Sie müssen mit dem wechselnden Salzgehalt fertig werden und die Überflutungen überstehen können. Es gibt Fischarten, Muscheln und Insekten, die dies schaffen und damit hier einen nährstoffreichen Lebensraum haben. Vögel haben kein Problem damit, weil sie vor Hochwasserständen bequem ausweichen können. Säugetiere können durch die winterlichen Überflutungen massiv gefährdet werden und haben daher nur im Sommerhalbjahr eine Chance, diesen Raum zu nutzen. 

Menschliche Nutzung

Für Menschen war diese Landschaft extrem gefährlich. Vor allem die winterlichen Überflutungen waren fatal, da kaum Fluchtpunkte gegeben waren. Daher war an eine dauerhafte Besiedlung kaum zu denken. Es kann sein, dass dieser Raum von den Randlandschaften aus zur Jagd genutzt wurde, eine dauerhafte Besiedlung war ausgeschlossen. Allein die Versorgung mit süßem Trinkwasser war eine kaum lösbare Problematik. Schon lange lebten Menschen auf dem Geestrand, dem sturmflutsicheren Raum im Anschluss an die Marsch. Hier war Ackerbau möglich, die randlichen Flächen der Marsch konnten als Weideflächen, zur Gewinnung von Winterfutter oder als Jagdrevier genutzt werden. Dieser Raum hatte allerdings auch seine Begrenzungen. Ursprünglich waren die weiten Flächen der Geest bewaldet und bedingt durch einen tieferen Stand des Meeresspiegels mit einer guten Entwässerung versehen. Im Laufe der Zeit jedoch führte der ständige Anstieg des Meeresspiegels zu einem Anstieg des Grundwassers und zu einer Verringerung des natürlichen Abflusses, so dass Moore zunächst in natürlichen Mulden wie den zahlreichen Pingo-Ruinen entstehen konnten und sich schließlich auch über die Flächen ausdehnten: Niedermoore an den Rändern der Geest und in Talmulden, Hochmoore auf den Flächen, die mit mageren Sandböden keinen hohen Nährstoffgehalt zu bieten hatten. Die Funde von zahllosen Mooreichenstämmen unter den Torfschichten der Moore weisen darauf hin (Abb. 1). Diese Moorausdehnungen engten den Nutzungsraum der Geestrandbewohner immer weiter ein. Zeugnis dafür liefern die frühgeschichtlichen Funde unter Mooren, die in Ostfriesland zahlreich belegt sind. P. Vos hat das Ausmaß der Vermoorungen in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden sehr überzeugend nachgewiesen (Abb. 2, Vos 2015).
Die Bewohner des Geestrandes mussten also eine andere Möglichkeit der Nahrungsbeschaffung suchen. Für die Bronzezeit ist an unserer Küste noch keine Nutzung der Seemarsch nachgewiesen. Aber in der Vorrömischen Eisenzeit drängten offenbar massiv Menschen in die Marsch des Harlingerlandes, wie K. Niederhöfer aufgezeigt hat (Niederhöfer 2016). 

Abb. 2: Zustand der Vermoorung Ostfrieslands um 500 v. Chr. (Grafik: bearbeitet nach P. Vos).

Vorrömische Eisenzeit

Die älteste hier nachgewiesene Besiedlung ist eine kleine Hütte auf ebener Erde auf Klei aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. (Abb. 3). Die Hütte von 4 x 6 Metern Größe mit Klei-Soden-Wällen war sicher nicht geeignet, für Vieh ein Unterdach zu bieten, zudem hätte sie eine winterliche Sturmflut kaum überstanden. Sie lässt sich also nur als temporäre Wohnung während des Sommerhalbjahres deuten (Niederhöfer 2016, 238–240). In der Nähe auf gleichem Niveau konnten einmalige Pflugspuren dokumentiert werden (Abb. 4, Niederhöfer 2016, 242–245). Die Bewohner der Hütte haben offenbar versucht, hier Ackerbau zu betreiben, dies dürfte aber in Anbetracht des Salzgehaltes kaum Erfolg gehabt haben. Dies spricht auch dafür, dass keine Erfahrungen im Umgang mit diesem Boden vorlagen. Die Einmaligkeit der Bodenbearbeitung spricht ebenfalls für eine nur temporäre sommerliche Nutzung.  Diese Menschen können eigentlich nur von der recht nahen Geest bei Esens gekommen sein und haben sich im Herbst auch wieder dorthin zurückgezogen, falls sie nicht einer Sturmflut zum Opfer gefallen sind. Für die Herkunft spricht auch, dass die Pfosten der Hütte aus gespaltenem Eichenholz bestanden, das in der Marsch nicht zu gewinnen war. Die Kleisoden für die Wälle wurden rings um die Behausung ausgegraben und konnten so Regenwasser ableiten, während das Dach sicher mit Schilf gedeckt war, das in der Umgebung im Frühjahr zur Genüge zur Verfügung stand.

Abb. 3: Rekonstruktion der Hütte im Rahmen des Expo-Projektes am NIGE 2000 (Foto: A. Heinze).

Eine Besiedlung um 210 v. Chr. war nur wenig weiter südlich nachweisbar (Niederhöfer 2016, 248). Hier waren Häuser auf einem Mistpodest von 25 m Durchmesser errichtet. Das Mistpodest war unmittelbar auf einer Torfschicht aufgeschüttet, es müssen also zuvor Menschen auch auf ebener Erde gewohnt haben. Sie waren hier auf einer weit in die Marsch hinausreichenden Moorschicht bis dicht an die Kleigrenze gegangen. (vgl. Abb. 2). Die Häuser hatten massive senkrechte Eichenholzpfosten, von denen einige dendrochronologisch auf 210 v. Chr. datiert werden konnten. Außerdem wurde Keramik der Vorrömischen Eisenzeit sowie eine Grube mit Knochenabfällen nachgewiesen. Neben den Knochen der üblichen Haustiere waren auch in geringem Umfang solche von Reh und Hirsch in den Küchenabfällen zu finden. Diese Siedlung war offensichtlich ganzjährig bewohnt, wurde aber nach und nach vom Klei eingeschlossen. Die Sturmfluten haben sich also langsam nach Errichtung dieser Siedlung weiter über die Torfschicht ausgedehnt. Wie lange diese Siedlung bewohnt war, ist noch nicht untersucht, allerdings war keine Keramik der Römischen Kaiserzeit zu finden, so dass höchstens ein Zeitraum von 150 Jahren in Betracht kommt. Auch wurde die Basis nie erhöht; das spricht eher dafür, dass die Siedlung nach einer Zerstörung durch eine Sturmflut aufgegeben wurde. Der Siedlungsraum wurde aber nicht aufgegeben. Nur wenig nördlich fand sich ein Müllplatz, der später als Ackerfläche genutzt wurde. Dadurch war die Keramik in sehr kleine Stücke zerpflügt, die aber dennoch eine recht genaue Datierung erlaubten. Eine Analyse zeigte hier, dass dieser Platz von 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. als Müllplatz genutzt wurde (mündliche Mitteilung von Rainer Halpaap, Wilhelmshaven). 

Abb. 4: Einmalige Pflugspuren im Watt aus der Vorrömischen Eisenzeit (Foto: A. Heinze).
Abb. 5: Garnröllchen der Römischen Kaiserzeit (Foto: J. F. Kegler, Ostfriesische Landschaft).
Abb. 6: Spielsteine der Römischen Kaiserzeit (Foto: J. F. Kegler, Ostfriesische Landschaft).

Neben der Keramik fanden sich auch zahlreiche Knochensplitter sowie mürbe Bruchstücke von Miesmuschelschalen, deren Inhalt wohl damals bereits auf dem Speiseplan stand. Intakte Fundstücke waren nur ein aus Ton gebranntes Garnröllchen (Abb. 5) und eine Netznadel aus Knochen. Weiterhin war die Fundstelle gekennzeichnet durch zahlreiche zu Spielsteinen abgeschliffene Keramikscherben (Abb. 6, Niederhöfer 2016, 242–245). 

Nachhaltige Nutzung von der Römischen Kaiserzeit bis zum frühen Mittelalter


Da hier keine mittelalterlichen Funde auftraten, muss man davon ausgehen, dass die Beackerung – durch einen ausgeprägten Pflughorizont als längerfristig nachgewiesen – bereits vor dem Mittelalter erfolgte, also zwischen 300 und 600 n. Chr. Allerdings ist ein Ackerbau in diesem Milieu ohne Deichbau auszuschließen, so dass diese Fläche auch bereits durch eine niedrige Kade gegen winterliche Überflutungen geschützt gewesen sein muss. 

Weiterhin zeigten die meisten Fundstellen der Umgebung Keramikränder der Vorrömischen Eisenzeit, so dass die Folgerung erlaubt ist, dass der gesamte Raum bereits vor 50 v. Chr. dicht besiedelt war. Die Gunst des Raumes war den Menschen durch die frühen Besiedlungsversuche bewusst geworden und wurde genutzt. 

Ebenerdige dauerhafte Siedlungen in dieser Marsch dürften nur kurzfristigen Bestand gehabt haben. Sie werden die natürlichen Höhen der Marsch genutzt haben. Auch in diesem Bereich der Küste muss ein langgestreckter Küstenwall gelegen haben, denn größere Entwässerungsrinnen zeichnen sich auch in dem Höhenrelief hinter der heutigen Deichlinie kaum ab. Diese Siedlungen mussten dann bald künstlich aufgehöht werden, hier entstand eine Wurtenreihe. Ein vergleichbares Bild ist heute noch in Dornumergrode zu beobachten. Anders als dort sind hier aber bald größere Wurten entstanden, wie die Analyse von Niederhöfer erbracht hat. Bis zum Mittelalter wurden diese Siedlungen nahezu ununterbrochen genutzt. Selbst vier Kirchen hatten sich hier entwickelt, wie das Stader Copiar nachweist (Niederhöfer 2016). 

Dieser Zustand hielt sich über tausend Jahre mit einer schrittweisen Erhöhung der Wurten. Die Wurtenreihe von Nordwerdum über Großholum bis nach Kleinholum mag hier als Beispiel dienen. Die archäologischen Funde im Watt bezeugen eine florierende Wirtschaft auch ohne Deichbau für diese Periode. Nur kleine Flächen wurden durch Kaden vor Überflutungen geschützt; waren die Häuser dort durch eine Sturmflut zerstört, musste überlegt werden, ob man sie an gleicher Stelle wiedererrichtete oder eine bessere Stelle fand, die bereits höher aufgeschlickt war. Verkehrswege waren die Priele, auf denen man die Geest im Hinterland ebenso erreichen konnte wie auch das offene Watt oder selbst die Nordsee. Funde von Fischgräten von Hochseefischen zeigen, dass auch die offene Nordsee zur Nahrungsbeschaffung genutzt wurde. Die Besiedlung blieb auf den Wurten und war daher bei Sturmfluten weitgehend geschützt. Die Halligen in Nordfriesland als Reste einer offenen Marschenlandschaft zeigen heute noch ein vergleichbares Bild. Die Marschenlandschaft konnte nach wie vor durch die Schlickablagerungen bei Sturmfluten in die Höhe wachsen und wurde auch weiterhin gedüngt. Diese Lebensweise war an die natürlichen Mechanismen der Marsch vollständig angepasst, ohne deren Prozesse zu stören. 

Abb. 7: Rolf Bärenfänger bei der Bergung des Säuglingsskeletts (Foto: Museum Leben am Meer, Esens).

Natürlich mussten die Bewohner in einer solchen geologisch aktiven Landschaft mit Veränderungen rechnen. Es gab sicher Küstenabbrüche, die durch den steigenden Meeresspiegel verursacht wurden, oder Wanderbewegungen der Priele, gleichzeitig verlagerte sich aber die Marsch dann insgesamt weiter nach Süden. Wurden Nutzungsareale an der Küstenlinie zu stark reduziert, mussten die Bewohner weiter südlich neue Wurten errichten und neue Flächen kultivieren. Hier kamen sie kaum in Konflikt mit den Bewohnern des Geestrandes, die nur die Ränder dieser Flächen als Wiesen nutzten.
 Der Spruch: „Kein Deich – kein Land – kein Leben“ lässt sich für diese Landschaft auf jeden Fall nicht belegen, er stammt aus einer viel späteren Zeit. Die Nutzung der Marsch erfolgte in einer weitgehend an die naturräumlichen Bedingungen angepassten Art, die deren Mechanismen nicht störte.
Im Bereich des späteren Dorfes Ostbense fand der Verfasser 1993 bei einer Begehung der Fundstellen ein menschliches Skelett in einer typischen vorchristlichen Bestattungslage. Da nicht viel Zeit bis zur Flut zur Verfügung stand, wurde das Skelett nur fotografisch dokumentiert und dann geborgen, da ein Wiederauffinden in diesen Bedingungen ohne die heute üblichen GPS-Geräte kaum möglich war. Beim Archäologischen Dienst in Aurich empfing der Jubilar, der seine Stelle als zuständiger Archäologe für die Landkreise Leer und Wittmund gerade angetreten hatte, den Fund mit den Worten: „Herr Heinze, keine Skelettbergung mehr ohne mich!“ Später wurde die bestattete Person als 40 bis 50jährige Frau aus der Völkerwanderungszeit identifiziert, die mit zwei Fibeln als Grabbeigaben beigesetzt worden war. Ein Jahr später meldete ein anderer ehrenamtlicher Denkmalpfleger eine weitere Bestattung in diesem Raum. Nach der Weitergabe der Meldung an den Archäologischen Dienst rückte der Jubilar mit vollem Equipment an (Abb. 7). Geborgen wurde dann eine ebenfalls völkerwanderungszeitliche Säuglingsbestattung, die in einem Holztrog beigesetzt worden war (Bärenfänger 1997). 

Im hohen Mittelalter wird alles anders

Durch den Sachsenspiegel wird für Ostfriesland eine geschlossene Deichlinie um 1300 belegt. Was hat die Marschenbevölkerung dazu gebracht, von ihrem erprobten und bewährten Nutzungsschema abzuweichen? Ackerbauprodukte waren natürlich in der nichteingedeichten Seemarsch nur in begrenztem Maße vorhanden, aber für die lokale Bevölkerung wird die Produktion dank der hohen Bodenfruchtbarkeit völlig ausgereicht haben. Im hohen Mittelalter wuchsen die Städte, die vor allem entlang der Flüsse lagen. Die Stadtkultur mit Handel und Handwerk boomte, einzigartige Bauwerke in Form von Kirchen und Domen wurden errichtet. Für die Ernährung dieser Bevölkerungskonzentrationen wurde Getreide benötigt, und die Marsch konnte es liefern, sofern sie die Salzwasserüberflutungen ihrer Nutzflächen verhindern konnte. Dass dies auf kleinen Flächen funktionierte, war hinlänglich bekannt. Ein weiterer Vorteil der Marsch war der Wasserweg, der einen sehr preiswerten Transport mit Segelschiffen in die Flüsse ermöglichte. Um die nötigen Flächen für den Getreideanbau zu gewinnen, war ein großräumiger Küstenschutz unabdingbar. Hierzu wurden die bereits seit dem 11. Jahrhundert vorhandenen Ringdeiche, die kleinere Flächen und einzelne Höfe schützten, nach und nach zu größeren Deichlinien ausgebaut.

Allerdings ist für solch ein gemeinsames Werk eine Koordination erforderlich, und heute ist nicht mehr nachvollziehbar, welche Macht diese Koordination geleistet hat. Eine geschlossene weltliche Macht ist für diesen Zeitraum für unsere Küste nicht nachweisbar. Auch die Treffen am Upstalsboom geben keinen Hinweis auf diesen Fragenkreis. Ein anderer Faktor könnten die Klöster sein, die sich hier im Küstenraum ausbreiteten und die mit Sicherheit ein umfangreiches Wissen in ihren Mauern bargen, auch im Bereich der Wasserwirtschaft. Zudem waren sie auf relativ schlechten Standorten auf eine ökonomische Selbstversorgung angewiesen, die durch den Deichbau und den darauf folgenden Ackerbau und Handel begünstigt wurde. 

Mord an der Marsch?

Eine geschlossene Deichlinie bedeutete das Unterbinden aller natürlichen Prozesse der Marschenlandschaft. Aus ständig strömenden Prielen wurden zumeist stehende Wasserläufe mit extrem anderen Lebensbedingungen für Tiere und Pflanzen. Aus einem fließenden und stark schwankenden Übergang von salzigem zu süßem Milieu wurde ein harter Übergang, der nur bei Öffnung der Siele möglich war. Die ständige Düngung der Flächen durch den Schlickfall des Nordseewassers blieb einfach weg. Dadurch und durch die Absenkung des Grundwasserspiegels veränderte sich der Boden vollständig. Aus einem ständig gedüngten „Auenboden“ wurde ein Gley und schließlich eine Braunerde mit der typischen Verlagerung von Tonmineralien, die diesen Boden langsam verschlechterte.

Dies dauert natürlich seine Zeit und war nicht immer negativ. Aber es war auch ein gewaltiger Eingriff in das natürliche Ökosystem. Schlimmer noch war die fehlende Ablagerung von Schlick, die diese Landschaft bisher mit dem steigenden Meeresspiegel hat mitwachsen lassen. Die Absenkung des Grundwasserspiegels führte zu einem Sacken der Bodenoberfläche und vergrößerte damit noch den Abstand zum steigenden Meeresspiegel.

Auf der anderen Seite standen natürlich auch gewaltige Vorteile für die Bewohner dieser Landschaft. Riesige Flächen optimaler Böden wurden intensiv landwirtschaftlich nutzbar. Wege konnten angelegt werden und der Verkehr verlagerte sich vom Wasser aufs Land. Die Verkehrsgunst des Raumes ließ Schiffbau und Schifffahrt aufblühen und schuf damit die Basis für umfangreiches Gewerbe und Handel. Natürlich verursachten der Deichbau und Unterhalt enorme Kosten, die aber durch die Gewinne aus der Landnutzung leicht erbracht werden konnten.

Aber die scheinbare Sicherheit hinter den Deichen verführte die Bewohner auch dazu, auf die erprobte Sicherheit durch die Wurten zu verzichten. Häuser wurden in zunehmendem Maße in der ebenen Marsch errichtet, vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung konnten sich den Aufbau von Wurten für ihre Wohnungen nicht mehr erlauben, sie hielten ihn auch nicht mehr für erforderlich.

Natürlich wurden Deiche und Küstenschutzbauwerke jeder Art nach den Erfahrungen früherer Sturmfluten errichtet, heute sogar berechnet unter der Nutzung aller möglichen Sicherheitsmargen. Aber der Meeresspiegel steigt immer noch und Sturmfluten rennen jeden Winter gegen unsere Deiche an. Sturmfluten neigen dazu, immer an einem Punkt mit maximaler Kraft zuzuschlagen; wo das jeweils stattfindet, lässt sich kaum vorhersagen, weil hier jeweils mehrere ungünstige Faktoren zusammenkommen müssen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass etwa in jedem Jahrhundert einmal diese Schutzmaßnahmen nicht gereicht haben, 1962 in Hamburg und 1953 in den Niederlanden, 1825 in weiten Bereichen der Küste, 1717 fast in der gesamten Deutschen Bucht mit dem Schwerpunkt in Groningen und Ostfriesland, und diese Liste kann man bequem weiter zurückverfolgen bis zum Anfang des Deichbaus. Ohne Deiche waren solche Katastrophen kaum möglich. In der Zeit vor dem Deichbau wagte niemand, große Investitionen in der Marsch auf ebener Erde vorzunehmen, weil jede Sturmflut verdeutlichte, dass hier Naturkräfte wirksam sind, die nicht zu beeinflussen waren. 1962 war hier in Ostfriesland die Erinnerung an 1825 noch lebendig, aber heute ist sie weitgehend verblasst.

Die Marsch ist eine reizvolle und reiche Landschaft, die aber mit den Sturmfluten und dem Deichbau ein großes Risiko birgt. Mag ein Risiko auch rechnerisch noch so gering sein, es bleibt in jedem Fall bestehen. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir dieses Risiko eingehen, vor allem, weil wir die natürlichen Prozesse der Marsch rigoros unterbunden haben. Die Natur bleibt am Ende immer die stärkere Kraft, es wäre besser, mit ihr zu leben und sich an ihr zu orientieren statt sie überwinden zu wollen. 

Neue Wege?

Unter diesem Aspekt sollte man den Küstenschutz neu überdenken. Die wirtschaftliche Struktur der Marsch hat sich verändert. Der Schwerpunkt liegt im Harlingerland im Küstentourismus, also in der scheinbaren Naturnähe der Landschaft und ihrem Erholungswert. Beides kollidiert aber mit einer intensiven Landwirtschaft und auch mit der intensiven Gewinnung von elektrischer Energie mit Hilfe von Windenergieanlagen. Ein Nationalpark Wattenmeer und ein Weltnaturerbe waren schon Schritte in eine sinnvolle Richtung, die sich auch ganz langsam im Bewusstsein der Bevölkerung widerspiegeln. Aber für einen steigenden Meeresspiegel reicht dies noch nicht aus.

Die wissenschaftlichen Ergebnisse über diese Region, an denen der Jubilar wesentlich beteiligt war, zeigen auf, dass die Kultivierung und Nutzung dieser Landschaft durchaus auch ohne Deichbau möglich war. Es sollte stärker darüber nachgedacht werden, ob wir wieder zu anderen Prinzipien des Küstenschutzes zurückkehren sollten, damit das Leben in dieser Region eine nachhaltige Zukunft hat.

Literatur

Bärenfänger 1997: R. Bärenfänger, Zwei völkerwanderungszeitliche Körpergräber aus dem ostfriesischen Wattenmeer bei Ostbense, Ldkr. Wittmund, Niedersachsen – archäologischer, anthropologischer, paläopathologischer und paläoethnobotanischer Befund. Studien zur Sachsenforschung 10, 1997,

1–47. (Mit A. Burkhardt, P. Carli-Thiele, H. Freund, S. Grefen-Peters u. M. Schultz)  Behre 2008: K.-E. Behre, Landschaftsgeschichte Norddeutschlands (Neumünster 2008).

Behre 2014: Ostfriesland. Die Geschichte seiner Landschaft und ihrer Besiedlung (Wilhelmshaven 2014). Leuschner u.a. 1986: H.-H. Leuschner/A. Delorme/J. Tüxen/H.-Chr. Höfle, Über Eichenwaldhorizonte in küstennahen Mooren Ostfrieslands. TELMA 16, 1986, 61–82.

Niederhöfer 2016: K. Niederhöfer, Archäologische Fundstellen im ostfriesischen Wattenmeer. Siedlungsgeschichte einer untergegangenen Landschaft. Beiträge zur Archäologie in Niedersachsen 18 (Rahden/Westf. 2016).

Vos 2015: P. Vos, Origin of the Dutch coastal landscape. Long-term landscape evolution of the Netherlands during the Holocene, described and visualized in national, regional and local palaeogeographical map series (Groningen 2015).

Rohkreisläufe an der ostfriesischen Nordseeküste
von von Jan F. Kegler, Axel Heinze und Paul Weßels 23. Oktober 2024
Rohkreisläufe an der ostfriesischen Nordseeküste
24. September 2024
Das Zwei-Siele-Museum Westeraccumersiel hatte aus einer Kapitänsfamilie aus Rhauderfehn ein Stickmustertuch aus dem Jahr 1764 erhalten. Dieses Stickmustertuch war mit typischen Symbolen der christlichen Seefahrt gestaltet. Ein Ehepaar aus Jever war von der Gestaltung und Machart fasziniert und hat das Tuch einer gründlichen Analyse unterzogen.
7. März 2024
Das Zwei-Siele-Museum Westeraccumersiel zeigte im Jahr 2023 eine Sonderausstellung über die Brüder Ludwig und Georg Kittel aus Dornum. Die beiden Söhne des Dornumer Apothekers Kittel fanden beide ihren eigenen Weg zur Malerei und haben ein umfangreiches Werk hinterlassen, das nur selten in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Ihre heimatliche Umgebung war ihr Schaffensbereich. Sie haben damit Menschen und Landschaften der Region in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgehalten. Auch in ihrem privaten Bereich nutzten sie ihre Kunst, wie Ludwig Kittel mit einer Geburtstagskarte für seinen Freund Carl-Friedrich Eucken, den Landwirt des Wilhelminenhofes in Dornumergrode, dokumentiert.
von Axel Heinze 31. Dezember 2023
Die K.-H.-Wiechers-Stiftung hatte den Auftrag, ein Haus für das „Zwei-Siele-Museum“ zu erwerben. Durch einen Zufall bekamen wir 2012 das Haus „Am alten Hafen 1“ angeboten, ein Haus unmittelbar an dem ehemaligen Hafen von Westeraccumersiel aus dem Jahr 1687, das als Ferienhaus genutzt wurde.
von Axel Heinze 10. Dezember 2023
Bei einem Antiquitätenhändler hier in der Region wurde ein Bild von dem Dornumer Maler Georg Kittel angeboten, ich sollte es mir doch einmal anschauen. Wir hatten ja gerade erst eine Ausstellung zu den Brüdern Kittel gezeigt, was sollte da noch kommen?
Bodenfund Ostfriesland. Petschaft
von Axel Heinze 10. Dezember 2023
Er war als Flüchtlingskind kurz nach Kriegsende mit seinen Eltern nach Dornumersiel gekommen. Die Kinder haben damals gerne auf einer kleinen Müllkippe hinter dem Deich gespielt, wo manches zu finden war, was man vielleicht noch gebrauchen konnte oder zu Geld machen konnte. Dabei war ihm ein kleiner Gegenstand aufgefallen, dessen Bedeutung ihm damals vermutlich garnicht bewusst war, aber es war ein Bild und Buchstaben zu erkennen. Und der Gegenstand war aus einem schweren, nicht rostenden Metall. Der Junge hat ihn nicht zu Geld gemacht, dafür war er vielleicht zu klein. Aber er blieb sein Leben lang sein Talisman und ein Andenken an seine Jahre in Dornumersiel. Der Fund ist jetzt fast 80 Jahre her. Und da er für seine Erben mit keiner Erinnerung verbunden war, beschloss er, das Stück dem Museum zu übergeben. Es ist ja ein Stück Ortsgeschichte damit verbunden.
von Axel Heinze 21. April 2023
In den nördlichen Niederlanden wurden von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein Warften massiv abgegraben zur Gewinnung von Düngermaterial. Mir wurde noch 1975 ein Pachtvertrag für einen landwirtschaftlichen Betrieb in Bereich der Middelzee gezeigt, in dem der Pächter verpflichtet wurde, sein Land alle 6 Jahre mit „terpaarde“ zu düngen. Aus Ostfriesland sind solche Beispiele in der Literatur nicht bekannt. Allerdings sind mir hier im nördlichen Harlingerland zwei Fälle bekannt geworden, die recht eindeutig darauf hinweisen, dass diese Praxis auch hier bekannt war und genutzt wurde. Ein Bewohner der Warft Oldendorf westlich von Bensersiel hatte seine ehemalige Landarbeiterstelle neben einem typischen Marschenhof von seinen Eltern geerbt. Seine Mutter hatte ihm berichtet, dass früher auf der Warft hinter ihrem Grundstück Erde als Dünger abgegraben und verkauft worden wäre. Die Veränderung im Relief war noch gut wahrnehmbar, es kann sich aber nicht um eine große Menge gehandelt haben. Von der Warft Oldendorf führt ein alter Weg nach Süden auf die naheliegende Geest zu der Geestrandsiedlung Utgast. Wesentlich später berichtet mir ein alter Landwirt in Utgast, dass er als Kind einmal einem Gespräch seines Großvaters mit einem Kollegen zugehört hätte. Er hat ihm berichtet, welche Flächen er mit Warftenerde aus Oldendorf gedüngt hätte. Es handelte sich hier um ehemalige Heideflächen, die noch auf der preußischen Uraufnahme 1:25 000 von 1892 als solche ausgewiesen waren. Nach dem Alter der handelnden Personen musst dies kurz nach 1900 geschehen sein. Einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Informationen kann ich nicht belegen, halte ihn aber doch für sehr wahrscheinlich.
Johann de Bloom
19. Januar 2023
Dornumersiel und Westeraccumersiel, zwei ewig konkurrierende Sielhafendörfer an der ostfriesischen Nordseeküste, waren im 18. und 19. Jahrhundert eine Heimat der Schifffahrt im Zeitalter der Segelschiffe. Hier lebte seefahrendes Volk, Kapitäne und Seeleute, Händler, Schiffbauer und Reeder. 160 Schiffe waren in dieser Zeit in beiden Häfen beheimatet, von der Schaluppe über die Kuff und die Galiot bis zum Schoner. Aber im 19. Jahrhundert wuchs der internationale Handel, und die Schiffe wuchsen mit. Gleichzeitig war die Dampfmaschine für die Schifffahrt einsatzfähig geworden und verdrängte langsam die Segelschiffe. Diese beiden Faktoren raubten den kleinen Sielhäfen nach und nach ihre Funktion, ihre Aufgaben verlagerten sich zunehmend in die großen Flusshäfen an Ems, Weser und Elbe. Was sich nicht so leicht verdrängen ließ, war die Seefahrertradition. Am Lebenslauf von Johann de Bloom läßt sich diese Entwicklung verfolgen. Johann Christoph de Bloom wurde am 13. August 1870 in Dornumersiel geboren. Er stammte aus einer alten Seefahrerfamilie. Sein Vater war Eppe Janssen de Bloom *1842, Ⴕ1928, Schiffer auf großer Fahrt, der selbst Schiffe hier in den Häfen liegen hatte, die RINA in Westeraccumersiel und danach die SIEVERINE in Dornumersiel. Später übernahm er die Gaststätte im Hafen von Westeraccumersiel und war Vormann des hier stationierten Rettungsboote AUGUST GRASSOW. Der Großvater war Heere Janssen de Bloom, Sägemüller in Westeraccumersiel, *1807, Ⴕ1850. Als Urgroßvater wird Hicke Janssen de Bloom genannt, Schiffskapitän in Westeraccumersiel und Sägemüller *1781, Ⴕ1852. Er umsegelte mit der Amsterdamer Fregatte DE HARMONIE Kap Hoorn und machte sich einen Namen als Westindienfahrer. Dessen Vater war Eppe Janssen de Bloom, der aus Dornum stammte und 1776 in Westerbur getraut wurde. Bis zum 14. Lebensjahr besuchte Johann die Schule in Dornumersiel. In den Sielhafenorten achtete man bereits bei der Auswahl der Lehrer besonders auf deren Fähigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen, denn wer in der Schifffahrt etwas werden wollte, musste später die Seefahrtsschule besuchen. Die Ausbildung dort war anspruchsvoll, wie Schulhefte dieser Schulen eindrucksvoll belegen. Sie war vergleichbar mit der Qualität der heutigen Fachhochschulen, wobei die Schüler allerdings als Voraussetzung nur den Schulabschluss der achtjährigen Volksschule benötigten. Der Einstieg in die Seefahrt Bereits in jungen Jahren begleitete Johann de Bloom als Schiffsjunge seinen Vaters Eppe de Bloom auf der Galiot RINA, die in Westeraccumersiel beheimatet war. Danach wechselte er mit seinem Vater auf den Schoner SIEVERINE, der Dornumersiel als Heimathafen hatte. Diese Fahrten führten ihn nach Königsberg, Göteborg, Amsterdam, Aberdeen und Leith in Schottland. Damit hatte er also Nord- und Ostsee als Schifffahrtsrevier kennengelernt. Später wechselte er auch auf größere Segler in anderen Häfen. Zum Beispiel fuhr er auf dem Vollschiff (Bark) BREMERHAVEN unter Kapitän Barenborg nach New York. Über ein besonderes Weihnachts-Erlebnis auf dieser Fahrt berichtete er in einem Brief an seine Eltern: „Das Wetter war einige Tage gut gewesen. Am Morgen aber gab es schon wieder Schneeböen. Am Nachmittag die Bramsegel bergen. Die Situation verschlechterte sich weiter. Abend erst Marssegel reffen. Dann auch schon die anderen Segel mit beiden Wachen reffen. Schließlich bei immer heftigeren Winden Obermarssegel und Klüver festmachen. Lagen jetzt beigedreht. Es war sehr kalt und naß.“ Es war eine Winterfahrt, die sich durch verschiedene widrige Umstände über das Weihnachtsfest erstreckte. Die relativ nüchterne Aufzählung der verschiedenen Maßnahmen an Bord lassen nur erahnen, wie hart die Arbeit selbst an Heilig Abend war. Ohne maschinelle Hilfsmittel, unmittelbar Wind, Wetter und Wasser an Bord ausgesetzt, das jederzeit winkende Seemannsgrab direkt vor Augen. Doch dann wurde es ruhiger. De Bloom in seinem Brief: „Endlich so gegen 22 Uhr hieß es: Steuerbordwache in die Koje. Dazu gehörte auch ich. Also hinein ins kalte nasse Logis. Nun aber schnell unter die Decken.“ Wie selbstverständlich klingt unter diesen Umständen eine eher lapidare Feststellung des jungen Mannes: „An Weihnachten und Heiligabend dachte kein Mensch.“ Aber in diesem Punkt irrte de Bloom, wie er selbst im weiteren Verlauf seines Briefes feststellte. „Nun hatten wir aber einen Jungen an Bord aus H. Der machte seine erste Reise. Seine Mutter hatte ihm eine Kiste an Bord geschickt, die er erst am Heiligabend öffnen sollte.“ Dieser Junge und seine Kiste sollten entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Nacht nehmen: „Ich wollte eben in die Koje, da hielt er mir die Kiste entgegen. Er bat mich mit Tränen in den Augen, ich möchte ihm doch helfen, Weihnachten zu feiern. Alle anderen wollten nichts davon wissen. Sie hatten schon mit Stiefeln nach ihm geschmissen.“ Johann de Bloom konnte die Situation nicht einfach mit einem Stiefelwurf quittieren und sich aufs Ohr legen. „Jetzt wurde mir doch anders. Nun wollen wir mal sehen, was dir deine Mutter zu Weihnachten schickt,“ sagte er zu seinem Kameraden. Sie öffneten die Kiste und fanden obenauf einen Zettel: “Für dich und deine Kameraden zum Weihnachtsfest von deiner Mutter.“ Natürlich packten die jungen Burschen zügig weiter aus und brachten einige Dinge zum Vorschein: „Ein kleiner Tannenbaum mit 8 Lichtern daran, dann 20 Pakete mit allen möglichen Keksen, Nüsse, Kuchen, zwei Pfund Zucker und zwei Flaschen Rum. Zuletzt der neue Tannenbaum mit weißem Zettel des Weihnachtsevangeliums.“ Als die Kiste erst einmal offen war, waren die Kameraden doch nicht mehr so gleichgültig, wie sie zunächst mit ihren Stiefeln handfest demonstriert hatten. „Alle Mann kamen jetzt heran, jeder war neugierig, sogar die Freien“ , bezeugte der Ostfriese seiner Familie. Und plötzlich war Weihnachten an Bord. Keiner hatte daran gedacht, und doch waren sie von der Stimmung ergriffen. Der Schluß des Briefs: „Der Tannenbaum wurde auf dem Tisch festgenagelt, die Lichter angezündet. Dann musste der Junge das Weihnachtsevangelium vorlesen. Alles war still. Dann stimmte einer an ‚Stille Nacht‘. Alle wurden wie die Kinder.“ Mit anderen Seglern kam er weltweit, Indien, Australien, China und Japan waren in seiner Erinnerung geblieben. Dieser Weg über den Schiffsjungen zum Matrosen war der übliche Berufsweg in der Segelschifffahrt. In den Jahren 1890 und 91 leistete er seinen Militärdienst ab. Vermutlich geschah dies bei der kaiserlichen Marine. Bereits 1891, also nach sieben Jahren Fahrenszeit, erwarb er das Steuermannspatent an der Seefahrtsschule in Timmel. Ein Jahr später hatte er die Berechtigung, Fischereifahrzeuge zu führen. In den Jahren 1894/95 befehligte er den Fischdampfer PAUL der in Geestemünde neu gegründeten Reederei Wurthmann, dann wechselte er zur Reederei Julius Wieting. Für diese Reederei fuhr er nachweislich 1897 von Geestemünde aus mit der BUTJADINGEN bis nach Island auf Fischfang. Am 28. Dez. 1897 erwarb er das Schifferpatent für große Fahrt an der Schifffahrtschule Stade und hatte damit die Berechtigung, beliebige zivile Schiffe auf der ganzen Welt zu befehligen.
20. Dezember 2022
Ein in Aurich geborener Kunstsammler hat dem Zwei-Siele-Museum ein Bild des ostfriesischen Malers Johannes Georg Bietz geschenkt.
von Axel Heinze 20. Dezember 2022
Axel Heinze – Zwei-Siele-Museum Westeracumersiel Flurnamen verraten viel über unsere Geschichte, selbst aus den Zeiten des Mittelalters, aus denen uns kaum historische Zeugnisse überliefert sind. Ein Beispiel dafür ist der „Homm“, ein sonderbarer Flurbereich nördlich von Westeraccum, der sich einer Namensdeutung bislang weitgehend widersetzt hat.[1]
Sturmflut 1962
18. Dezember 2022
Jede Sturmflut hat genau an einer Stelle ihre stärksten Auswirkungen: Dort, wo die größte Anzahl ungünstiger Faktoren zusammenkommt. Bei der Februar-Sturmflut 1962 war es offenbar Hamburg, weshalb diese Sturmflut auch Hamburg-Sturmflut genannt wird. Zu den Faktoren gehören der Zeitpunkt des Hochwassers, die Stärke und Richtung des Windes, der Stand von Mond und Sonne zueinander, der Abstand des Mondes von der Erde und viele andere Faktoren. Die Sturmflut hatte 340 Tote zur Folge, davon 315 alleine in Hamburg. Aber natürlich gab es auch Auswirkungen in einem weiten Umfeld. Wie sah es damals hier im Harlingerland aus? Auch in Ostfriesland war ein Deich gebrochen. Der Völlener Deich an der Ems nördlich von Papenburg war zerstört und der Polder unter Wasser gelaufen. Aber es hat hier keine Todesopfer gegeben. Insgesamt waren hier an der Küste 3000 ha Land überspült, aber nicht durch Deichbruch, sondern durch überlaufendes Wasser an den Deichen, weil diese eine viel zu geringe Höhe hatten. Es waren aber in aller Regel nicht die Seedeiche, sondern die flacheren Deiche vorgelagerter Polder wie zum Beispiel der Dammspolder östlich von Westeraccumersiel und Westerburer Polder zwischen Westerbur und Bensersiel.
14. Dezember 2022
Wo liegt überhaupt die Bucht und was ist die Dornumer Bucht? Gegen eine kleine Gebühr von 5 Euro für das Museum beantworten wir diese Fragen im Rahmen eindrucksvoller Radtouren. (Für Vereinsmitglieder ist die Führung kostenlos) Auf Anfrage organisieren wir gerne die Touren zu einem Wunschtermin.
10. September 2021
Die Accumer Ee ist ein alter Wasserlauf in der nördlichen ostfriesischen Seemarsch. Marsch ist eine Landschaft, die an der Küste von Gezeitenmeeren entsteht. Das Wort Marsch bedeutet ursprünglich Sumpf, vielleicht verwandt mit unserem heute noch bekannten Wort Matsch. Das war eine natürliche Landschaft, bevor der Mensch daraus eine Kulturlandschaft schuf, die er wirtschaftlich nutzen konnte. Naturlandschaft Diese Naturlandschaft war menschenfeindlich, denn sie wurde bei jeder Sturmflut bis an den Geestrand vom salzigen Meerwasser überflutet. Es gab kein Trinkwasser, denn Brackwasser war für Menschen ungenießbar. Es gab kaum Höhen, auf die man sich bei Überflutungen retten konnte. Es gab keine Wege, nur ein endloses Gewirr von Wasserläufen, die zudem viermal am Tag im Rhythmus der Gezeiten ihre Richtung änderten. Bäume und Sträucher gab es auch nicht, denn die vertrugen das Salzwasser nicht, nur ein endloses Meer von Schilf, das Menschen kaum überblicken konnten. Weitab von der Küste gab es Lagunen mit brackigem Wasser, für Vögel und Insekten geeignet, aber nicht für den Menschen.
Schatzsuche im Zwei-Siele-Museum
10. Juli 2021
Der ganze junge Müll musste erst einmal rausgeschafft werden, der alte Müll sichergestellt werden. Viele fleißige Hände haben geholfen, und es wurde von Tag zu Tag spannender, was da alles sichtbar wurde.
11. Juni 2021
Ostfriesland ist reich an mittelalterlichen Kirchen! Alleine im Einzugsbereich der Accumer Ee gab es elf mittelalterliche Kirchenbauten. Eine – die Kirche von Osterbur – wurde ein Opfer der Sturmfluten, aber der Rest kann sich durchaus sehen lassen. Gönnen Sie sich diese Augenweide mittelalterlicher Baukunst.
7. Juni 2021
Wenn Sie über die A29 nach Ostfriesland kommen, sehen Sie am rechten Straßenrand eine der jetzt modernen braunen Hinweistafeln, die auf landschaftliche Besonderheiten hinweisen. Da steht mit großen Lettern: „Niedersächsische Marschenlandschaft“.
Upcycling im Museum
28. Mai 2021
25. Mai 2021
Bekanntlich ist Ostfriesland mit Deichen gegen die Gewalt des Meeres geschützt. Diese grünen endlosen mächtigen Wälle kennt jeder. Sie halten das salzige Nordseewasser draußen, vor allem bei Stürmen, aber auch bei normaler Ebbe und Flut. Aber Deiche haben auch eine andere Wirkungen. Sie halten das Regenwasser drinnen, es kann ja nicht über den Deich klettern. Wenn Menschen einen Deich bauen, müssen sie etwas bedenken, um das – manchmal reichliche –- Regenwasser ins Meer zu schaffen. Und diese Einrichtung nennt man „Siel“. Zu Anfang des Deichbaus war das eine hölzerne Röhre durch den Deich. Außen war eine Klappe davor. Bei Niedrigwasser konnte das Wasser die Klappe selbst aufdrücken und frei abfließen. Kam draußen die Flut, drückte sie die Klappe zu. Dann musste das Salzwasser draußen bleiben.
Mirja Harms im Zwei-Siele-Museum
4. September 2020
Auf diesem Foto hat Mirja Harms noch gut 300 Arbeitsstunden und zwölf Wochen vor sich! (Bild: Handwerkskammer) Mittlerweile ist die Wand freigelegt und strahlt im alten Glanz. Im folgenden Bereicht, der am 03.09.20 im Anzeiger für Harlingerland erschien, erfahren Sie neben den Informationen zur Wandfreilegung auch etwas über Mirja Harms und ihren überaus interessanten Beruf als Restauratorin.
Denkmalschutz Naturschutz
22. August 2019
Wir hatten das Haus „Am alten Hafen 1“ in Westeraccumersiel erworben, um es zu sanieren und dort das „Zwei-Siele-Museum“ und die K.-H.-Wiechers-Stiftung unterzubringen. Aber bei genauerer Besichtigung des Gebäudes ergab sich ein Hindernis, mit dem wir zunächst nicht gerechnet hatten. Das Haus war immer unbeheizt gewesen, da es nur im Sommer genutzt wurde. Gleichzeitig war der Keller oder besser das ‚Niederhaus‘ durch mangelnde Drainage immer etwas feucht. Zudem fiel durch die Fenster in nordwestlicher Richtung immer ein dämmriges Licht in diese Räume. Genau das sind die Lebensbedingungen, welche die Hirschzunge (Asplenium scolopendrium) bevorzugt; ein geschützter Farn unserer Region, den man sonst nur in Gebirgsschluchten findet. Hier aber wuchs er im Keller eines denkmalgeschützten Hauses dicht an der Küste.
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